Primo Levi: Ist das ein Mensch?

Eine pädagogisch-anthropologische Lektüre

Das Buch Ist das ein Mensch? (1947) von Primo Levi ist eines der wichtigen, vielleicht das wichtigste Buch der sog. KZ-Literatur. Der Bericht enthält seine Gedanken und Reflexionen zu einem Jahr, von Februar 1944 bis Januar 1945, das er im Arbeitslager Monowitz/Buna in Ausschwitz verbringen musste. Das Buch handelt von dem, was Menschen anderen Menschen antun können – von einem absoluten Zivilisationsbruch in einem Lager, in dem Menschen alles genommen wird: ihre Kleidung und ihre Haare, ihre Sprache und ihre Kultur, ihr Name und ihr Geist, ihre Würde und ihr Selbst.

Levi nimmt in diesem Buch die Haltung eines Anthropologen an, der versucht sich selbst und die Situation, in die er geraten ist, zu verstehen, wobei es hier um ein Verstehen des völlig Unbegreiflichen geht. Insofern bildet Auschwitz für ihn auch einen wissenschaftlichen Ort, weil sie ihm das Studium der menschlichen Natur erlaubt. In einem Interview bezeichnet er Ausschwitz daher einmal als seine „wahre Universität“. Er habe, so schreibt er, in diesem Buch bewusst darauf verzichtet, explizit zu urteilen, doch die impliziten Urteile seien durchaus vorhanden. Diese wiederum fordern die Leser:innen geradezu auf, Stellung zu beziehen. Ich werde dieser Geste folgen, und die für die pädagogische Anthropologie bedeutsamen Sachverhalte eng an seine Beschreibungen und Überlegungen anschließen.

Aus diesem Blickwinkel lässt sich der Zivilisationsbruch in einem ersten Schritt in anthropologische Dimensionen übersetzen, in denen es um eine Verdichtung des Raumes, eine Zerstörung der Zeit, eine Reduktion auf die „Eingeweide“, eine Agonie des Sozialen und eine Enthumanisierung von Menschen geht. In einem zweiten Schritt geht es um das Überleben lernen. Wie lässt sich Auschwitz überleben, wenn man weiß, dass die durchschnittliche Lebenserwartung im Lager Buna drei bis vier Monate betragen hat? Levi gibt in seinem Bericht mehrere Gründe dafür an, neben Glück und Zufall sind es vor allem das existenzielle Lernen, die sprachlichen und fachlichen Kenntnisse, die kulturelle Bildung und die Freunde, die ein Überleben ermöglichen. In einem dritten Schritt geht es schließlich um die pädagogischen Folgerungen, die wir dem Bericht von Levi entnehmen können. Zur Sprache kommen Wahrnehmen, Erinnern, Beschämen, Verantworten, Mahnen – und Hoffen.

Literatur

Levi, Primo (1999): Ist das ein Mensch? München: dtv.

Prof. Dr. Jörg Zirfas 

Universität zu Köln